Das große Konzert
„Hannes, es ist Zeit zu gehen“, ruft Mama ihrem schläfrigen Sohn zu. Ein langer und schwieriger Schultag ist vor wenigen Stunden zu Ende gegangen, sodass Hannes einem Nickerchen auf dem Sofa nicht widerstehen konnte.
Hannes ist ein achtjähriger Junge, der mit seiner zehnjährigen Schwester Klara und seinen Eltern im beschaulichen Altenstadt in Hessen, wohnt. Zwar ist er erst in der dritten Klasse, doch der Tag heute hat ihn irgendwie geschafft. Er lernt mehr und mehr, und die Lehrer lassen auch nicht locker, jeden Tag aufs Neue zu üben. Dabei hat er selbst viel mehr Interesse an Malen und Basteln. Die Schule überfordert ihn manchmal etwas, obwohl er schon gerne mit seinen Mitschülern zusammen ist. Seine Schwester Klara, die er wirklich sehr mag, kann natürlich schon deutlich mehr als er. Dadurch, dass sie zwei Jahre älter ist als Hannes, ist es für ihn umso schwerer, hier immer mitzuhalten. Klara hat zudem eine Gabe, die er sehr bewundert und die es ihm erst recht schwer macht, auf Augenhöhe mit ihr zu sein. Klara kann sich nämlich unsichtbar machen und hat schon so einige spannende Situationen gelöst. Wenn Klara unsichtbar wird, ist sie furchtlos, traut sich fast alles und stellt sich selbst Schurken und Bösewichten in den Weg. Warum kann er das nicht? Er will auch gerne ein Held sein. Ja gut, Klara braucht manchmal seine Hilfe und kann ihn, wenn sie sich an den Händen halten, auch mit unsichtbar werden lassen, sodass beide gemeinsam Gutes tun oder Böses verhindern. Doch das ist nicht dasselbe wie eine eigene, individuelle Fähigkeit.
Jetzt steht erst einmal das Wochenende vor der Tür. Heute haben die Eltern gesagt, wollen sie zusammen mit den Kindern erstmals auf ein Konzert gehen. Am Birkenbornteich in Höchst findet das traditionelle Fischerfest des Vereins ASV Höchst/Nidder statt. Hannes hat gleich zwei gute Gründe, um jedes Jahr dabei zu sein. Erstens ist er mit seinem Papa im Fischereiverein aktives Mitglied. Und zweitens gibt es jedes Jahr eine Hüpfburg, die er nicht verpassen darf. Dass dieses Jahr gleichzeitig auch noch eine Band auftritt, die Covermusik bekannter Stücke spielt, macht die Teilnahme nur noch interessanter. Noch nie war er oder seine Schwester Klara auf einem Konzert, und sie sind gespannt, wie ihnen die Musik gefällt.
Am Festgelände angekommen, zeigt sich schnell, dass der Verein gute Werbung für das Fest betrieben hat. Überall in der Umgebung war von der Band „Eight Wonders“ zu lesen, die heute auftreten wird. Eine wahre Lokalbekanntheit, die viele Leute dazu gebracht hat, sich für die Veranstaltung zu interessieren. „Der Verein hat ganze Arbeit geleistet“, wendet sich Papa an Hannes. „Dass so viele Leute gekommen sind, wird uns sicherlich helfen, neue Mitglieder zu gewinnen“, ergänzt er. Auch Hannes ist zufrieden und nickt ihm zustimmend zu. „Das einzig Blöde daran ist, dass die Hüpfburg ziemlich voll ist, Papa.“
Nachdem sich die Familie mit einem Lachs vom Grill und Gemüsepäckchen gestärkt hat, betrachten alle bereits gespannt die Bühne und freuen sich auf die wohl beste Coverband Hessens, wie Mama und Papa sie voller Freude angekündigt haben. Nur Hannes und Papa gehen noch einmal zur Hüpfburg und treffen dabei Hannes´ Klassenkameraden Max, mit dem er gemeinsam springt, als gäbe es kein Morgen. Sie hüpfen um die Wette, und es dauert nicht lange, bis beide völlig verschwitzt sind. Inzwischen sind mehrere Hundert Besucher eingetroffen, die die Kapazität der Veranstaltungsfläche nahezu nicht mehr stemmen kann. Zum Glück gibt es auch einen Sicherheitsdienst, der irgendwann beschließt, dass ein Einlassstopp verhängt werden muss. Das heißt, dass keine weiteren Zuschauer aufgenommen werden können.
„Hannes, wir beide müssen rüber“, beschließt Papa und packt seinen Sohn am Arm. „Mama und Klara warten bereits auf uns, und es ist kaum noch Platz.“ Die beiden beeilen sich, um den Rest der Familie zu erreichen. „Dagobert, schön dich zu sehen!“, hört Hannes seinen Papa einen weiteren Zuschauer begrüßen, ehe das Licht auf der Bühne angeht und die Band ihren großen Auftritt beginnt. Hannes, der ohne große Erwartung in den Abend gegangen ist, ist von Anfang an begeistert. Für ihn ist der Tag schon jetzt ein Erfolg, weil er mit Max auf der Hüpfburg gesprungen ist.
Lied für Lied spielt die Band, und die Stimmung wird immer besser. Selten hat Hannes seinen Papa derart ausgelassen erlebt. Das gekaufte Bier schwappt im Becher nur so hin und her, und es passiert nicht selten, dass sogar ein Schluck über den Becher hinausschwappt. „Warum kauft Papa Bier, wenn er es dann doch nur verschüttet?“, denkt Hannes und krallt sich dabei leicht an seine Mama, da die anderen Besucher seiner Meinung nach zu eng bei ihnen stehen.
Ein Besucher fällt Hannes ganz besonders auf. Er trägt eine grüne Hose, die sehr alt aussieht, und ein Hemd, das die Biene Maja zeigt. „Mama, der Mann da hat ein Biene-Maja-Hemd“, versucht Hannes seine Mama auf den Mann aufmerksam zu machen. Doch die hört ihn nicht und wippt inzwischen mit Papa im Arm im Takt zum aktuellen Lied. „Tage wie diese“ oder irgendetwas in der Art dröhnt aus den Lautsprechern. Hannes hat dafür gerade kein Ohr. Er ist wie fasziniert von dem Mann und kann seinen Blick nicht abwenden. Und dann traut Hannes seinen Augen nicht. Hat der Mann gerade wirklich aus einer Handtasche ein Portemonnaie geklaut? Für ihn sah es zumindest so aus. „Nein, bestimmt nicht“, denkt er und wendet sich kurz ab. Doch es dauert nicht lange, und sein Blick ist wieder bei dem Mann mit dem komischen Oberteil. Da, tatsächlich, er hat wieder zugelangt und durchsucht gerade die Handtasche einer weiteren Frau, die dies nicht zu bemerken scheint. Sie haben einen Dieb unter den Gästen. Hannes versucht seinen Papa auf den Dieb aufmerksam zu machen, doch der ist völlig im Tunnel. Papa und Mama sind in die Musik vertieft, Klara findet er ebenfalls nicht. Sie hat sich eben abgemeldet, da sie Wasser kaufen wollte.
„Was kann ich tun?“, fragt sich Hannes und geht zu einem Sicherheitsmann, der nur wenige Meter von ihnen entfernt an einem kleinen Häuschen sitzt und energisch mit den Füßen wippt. Auch ihm scheint die Musik eindeutig zu gefallen. „Mir ist ein Dieb aufgefallen“, sagt Hannes zu dem Mann, der sofort aufhört, mit den Füßen zu wippen. „Lass mich kurz telefonieren“, antwortet der Mann und bittet Hannes, bei ihm zu bleiben. „Veranstaltungstechnik, wir haben einen Dieb in den Zuschauern“, sagt der Mann am Telefon und fragt Hannes anschließend, ob er sagen könnte, wer das ist. Hannes beschreibt ihn als einen Mann im Hemd, doch vergisst vor lauter Aufregung die Hälfte, und vor allem das wichtigste Detail, dass das Hemd von Biene Maja ist.
„Wir finden ihn“, beruhigt ihn der Sicherheitsmann, und schon wenig später macht die Band von der Bühne aus eine Durchsage. „Wir haben die Info bekommen, dass unter den Gästen ein Dieb ist“, wenden sie sich an die Besucher. „Gebt bitte besonders auf eure Sachen acht“, ergänzen sie. Natürlich gibt sich der Dieb trotz der Durchsage nicht zu erkennen. Scheinwerfer werden über die Zuschauer gehalten, doch finden können sie den Dieb nicht.
„So wird das nichts“, denkt sich Hannes noch, ehe er völlig verblüfft eine Veränderung an sich feststellt. Seine Füße werden zu einem Gerüst, sein Bauch wird zu Stützen, die das Gerüst sichern, und sein Kopf wird zu einem Scheinwerfer. Während noch immer alle den Dieb suchen, strahlt Hannes nun mit starkem Licht exakt den Mann im Biene-Maja-Hemd an. Der Sicherheitsmann neben Hannes versteht die Welt nicht mehr. Wo ist der Junge hin, mit dem er gerade noch gesprochen hat? Und vor allem, wo kommt der riesige Scheinwerfer her, der gerade noch nicht da war?
Doch bevor er diese Fragen klärt, muss er nun erst einmal mit den anderen Sicherheitsleuten eingreifen, geht zu dem Mann, und schnell wird deutlich, dass er tatsächlich der Dieb ist. Gleich mehrere Portemonnaies finden sie bei ihm, die eindeutig nicht ihm gehören. Hannes Mission ist erledigt, und er verwandelt sich zurück in den unscheinbaren achtjährigen Jungen, der er vorher war. „Wow, war das echt ich?“, denkt er und sucht schnell wieder den Weg zu seiner Familie. Der Wachmann will sich gerade noch bei ihm für die Hilfe bedanken, da fällt er erneut aus allen Wolken, da der Schweinwerfer, der gerade noch da war, nun plötzlich wieder verschwunden ist. Er spricht mit den anderen Wachleuten, und immerhin bestätigen auch die ihm, dass dort eben noch ein Scheinwerfer war. Er ist also nicht wahnsinnig und sieht Dinge, die gar nicht da sind.
Hannes hat seine Familie inzwischen gefunden und spricht sofort seine Schwester an. „Klara, ich muss dir etwas erzählen!“ Er berichtet ihr in Kurzform, was sich aus seiner Sicht ereignet hat. Klara strahlt, nachdem Hannes mit ihr gesprochen hat und umarmt ihn. „Dann haben wir jetzt beide eine Fähigkeit! Ich freue mich für dich“, meint Klara.
In der Online-Ausgabe der Zeitung wird am Tag danach ebenfalls von dem Vorfall berichtet. „Dieb entkommt Zuschauern nicht“, titelt das Blatt. Aber auch von einem merkwürdigen Vorfall, bei dem ein riesiger Scheinwerfer plötzlich aufgetaucht und dann wieder verschwunden ist, wird berichtet. So viel passiert normalerweise nicht in ihrem Ort. Doch das ist nur den Anfang von heldenhaften Verwandlungskünsten, die noch so einige Fälle aufklären werden.